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700 Jahre Göstrup

Die Göstruper Eiche erzählt ...

Darf ich mich vorstellen?

Ich bin die  tausendjährige Eiche aus Göstrup, einem kleinen Dorf im heutigen Ostwestfalen-Lippe und mit unter 200 Einwohnern der kleinste Ortsteil der Gemeinde Extertal im Landkreis Lippe in Nordrhein-Westfalen. Man hat mich zwar vor über 50 Jahren gefällt (ich muss zugeben, ich war damals nicht mehr gut beieinander), aber ein Rest von mir existiert immer noch in Göstrup, und ich habe dort gute Freunde, die sich nach wie vor meiner annehmen. Nun besinnt sich das Dorf seiner Geschichte, und wer wäre da würdiger als ich mit meiner tausendjährigen Erfahrung, den Werdegang  des Dorfes zu kommentieren.

 

Die meisten Chroniken fangen bei den Anfängen der Besiedlung an, aber davon kann ich gar nichts erzählen, denn da gab es mich noch nicht. Rechne ich von meiner Fällung im Jahre 1957 an rückwärts, so erblickte ich ungefähr 957 n. Chr. das Licht der Welt, und in dieser Zeit war die Region bereits christianisiert dank Karl dem Großen im Kampf gegen die Sachsen, und sie war schon gut besiedelt in Form von Rodungsinseln in einem Waldmantel mit Lichtungen, der sich über ganz Mitteleuropa erstreckte - ich hatte eine schöne Kindheit!

 

Etwas erschrocken habe ich mich, als plötzlich im 12. Jahrhundert überall der Wald bis auf einen Grundbestand abgeholzt und in Bauernland verwandelt wurde, aber mich hat man verschont, und so erlebte ich, wie das Dorf Göstrup entstand aus den vereinzelten kleinen bäuerlichen Ackerbau und Viehzucht betreibenden Weilern und Einzelhöfen, und auch Städte wie Bösingfeld wurden nun gegründet.


Von der frühgeschichtlichen Besiedlung der Gegend kann ich nur berichten, dass Hügelgräber wie das auf dem Meiersberg davon Zeugnis geben, dass das LWL Freilichtmuseum in Detmold römische  Münzen ausstellt, die in Göstrup gefunden worden waren, und auf dem Buntenberg befinden sich Reste von Stein- und Erdwällen, möglicherweise die Reste einer Fluchtburg, wie es sie in der Nähe von Siedlungen wie Göstrup oft gab und die bei Gefahren aufgesucht wurden.

 

In meiner Kindheit hieß mein Geburtsort übrigens nach sächsischem Ursprung Gossentorp bzw. Ghossindorpe, Gotzynctorpe und schließlich Gostorpe, zu Deutsch Gänsedorf, erstmals urkundlich erwähnt im Jahre 1318, also vor 700 Jahren. Deutscher König war damals Ludwig II aus Bayern, in Lippe herrschte zu der Zeit Graf Simon I., und die umliegenden Bauernschaften und Kleinsiedler waren seine Untertanen, meist von Geburt an „unfrei“ oder „Hörige“. Nach damaligem Verständnis gehörten sie dem Grundherren, unter dessen Schutz sie standen. Dafür mussten sie Fleisch, Milch, Getreide und anderes abgeben und ohne Bezahlung für ihn arbeiten (Leibeigenschaft). Sie durften nicht wegziehen und nur mit Erlaubnis heiraten. Darüber kann ich nach wie vor nur mein eichenlaubgekröntes Haupt schütteln (und ich war ja auch noch jung zu der Zeit)! Die Menschen waren nicht zu beneiden: das bäuerliche Leben im Mittelalter war hart und geprägt von Arbeit und Armut, Fremdbestimmung und Willkür.

Mein eichenlaubgekröntes Haupt musste ich im Laufe der Geschichte noch öfters schütteln. Die Göstruper "gehörten" z. B. unter anderem den Grafen von Sternberg, einer Nebenlinie der Schwalenberger Grafen, die auch die Burg Sternberg erbauen ließen. Seit 1492 gab es auf der Burg Sternberg das Amt Sternberg für die Verwaltung und die Justiz, und auch die herrschaftliche Göstruper Mühle unterstand lange diesem Amt.

 

Im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges (1618 – 1648) war das Extertal, und damit natürlich auch Göstrup, mehrmals Winterquartier der (katholischen) Kaiserlichen, die alles mitgingen ließen, was nicht niet- und nagelfest war (obwohl Lippe – gegen Bezahlung – eigentlich neutral war!). Ich hatte schon gut zugelegt zu dieser Zeit (gut 660 Jahre alt, also in der Blüte meines Lebens) und kam als Brennholz zum Glück nicht mehr in Frage. Aber die gesamte Landwirtschaft hier kam zum Erliegen in diesen Zeiten, die Menschen litten bittere Not, und es dauerte sehr lange, bis die Dörfer, auch Göstrup, sich davon erholten. Dabei waren die Einwohner seit jeher ohnehin zwangsweise protestantisch oder auch nicht, je nach Religionszugehörigkeit ihres Feudalherren, und es sollte noch lange dauern, bis sich daran etwas änderte. Als starke, stolze Eiche tat mir das sehr leid, ich hing ja auch an meiner Bauernstelle und den dort lebenden Menschen.

 

Aber: mit einem Bewusstseinswandel im 19. Jahrhundert, als einfache Menschen gegen Unterdrückung und Ausbeutung kämpften und auf die Straße gingen, hielt endlich auch in Göstrup die Demokratie Einzug. Seit etwa 1900 gibt es Gemeinderatsprotokolle von Göstrup. Damals waren die Herren Lüdeking, Bunte, Milse, Grenner, Vieregge und Reese Ratsmitglieder, die die Geschicke der Gemeinde lenkten. Im Göstruper Ortskern findet man neben „meinem“ Hof Lüdeking schon länger noch die Höfe Kehmeier, Kamp, Kuhlmann, Bunte und Hanke als „Urhöfe“. Weitere Höfe lagen in den Ortsteilen Hüttenhau und Malmershaupt.

 

Neben den hauptsächlich in der Landwirtschaft tätigen Menschen verdiente um 1900 und später ein beachtlicher Anteil der Arbeitenden ihr Brot als Zieglerwanderarbeiter weit weg von zu Hause. Erst in den Herbstmonaten kamen sie zurück und kümmerten sich u. a. auch um Belange des Dorfes, um z. B. 1934 bei der Verstromung von Göstrup zu helfen, indem sie Masten pflanzten. Andere betätigten sich als Hausschlachter, Maurer oder in der Landwirtschaft.

 

Der Untergang des Kaiserreichs 1918 änderte wenig, der erste und zweite Weltkrieg forderte seinen Tribut auch in dieser Gegend, nachzulesen am Göstruper Ehrenmal. Dass die Nationalsozialisten gerade in dieser Region überhaupt so entscheidend punkten konnten, ist mir als deutsche Eiche immer noch geradezu unverständlich!

 

Den 2. Weltkrieg überstanden Göstrup und ich weitgehend unversehrt, auch wenn einige Bomben in der Umgebung fielen. Göstrup war wie die Nachbarorte Evakuierungszuflucht für ausgebombte Menschen besonders aus dem Ruhrgebiet. Nach der Kapitulation am 8. Mai 1945 wurde Göstrup wie ganz Lippe zunächst Teil der britischen Besatzungszone, aber Englisch musste ich nicht mehr lernen, denn Lippe wurde am 21.1.1947 als Land aufgelöst und in das neue Land NRW eingegliedert.

 

Ruhe kehrte trotzdem nicht ein: die große Zahl der Heimatvertriebenen war unterzubringen, notfalls durch Zwangsbewirtschaftung von Wohnraum mittels Wohnungskontrolleuren. Dann normalisierte sich der Alltag allmählich. Göstruper Kinder, die bis 1949 einen beschwerlichen und langen Schulweg nach Lüdenhausen auf sich nehmen mussten, bekamen als Behelf nun ein gepachtetes Gebäude neben der Gaststätte Kuhlmann als Schulraum zur Verfügung gestellt, bis die Göstruper mit Zuschüssen und Eigenleistung einen Schulneubau realisierten.1957 konnte die neue Schule dann bezogen werden, allerdings nicht lange: am 1. Januar 1969 wurde die bis dahin selbstständige Gemeinde Göstrup in die neue Großgemeinde Extertal eingegliedert! Das erlebte ich aber nicht mehr, denn

 

1957 schlug auch mein letztes Stündlein. Ich war natürlich keine Schönheit mehr (in meinem Alter!), aber stattlich war ich schon, eine Herausforderung für jeden Baumfäller, was sogar den WDR auf den Plan rief - die tausendjährige Eiche, das Wahrzeichen von Göstrup, ich war eine Berühmtheit, im Göstruper Wappen fest verankert, und sollte es bleiben: dass man im Dorf lange versucht hat, meine sterblichen Überreste zu erhalten, was zu etlichen Traditions-Veranstaltungen wie den Glühweinstand in Göstrup geführt hat, und dass meine Überreste so geniale kreative Verwendungen als Eichenskulpturen fanden, macht mich ebenfalls unsterblich.

Wie geht es meinem Dorf heute? Gerade Dörfer sind ja heute bekanntlich von Landflucht und beruflicher oder privater Wegorientierung und/oder anonym bleibendem Zuzug gekennzeichnet. Was bleibt? Die Landwirtschaft konzentriert sich in immer weniger Großunternehmer, diese kümmern die Ortschaften und ihre Belange wenig. Das ländliche Alltagsleben ist ohnehin beruflich und privat oft eine Herausforderung: die Infrastruktur ist meist schlecht, der Weg zur Arbeit ist weit, ohne Auto geht gar nichts. Das soziale Miteinander steht und fällt auch mit entsprechendem Engagement füreinander, oder es geht zurück zu den isolierten Weilern der Frühgeschichte. Die Göstruper Dorfkneipe (1989 durch einen Brand zerstört) und Erntefeste sind Geschichte und nicht alle zugezogenen Dorfbewohner kennt man, anders als früher! Ich höre aber zuletzt auch von Zuzügen und nicht wenigen, die offen sind für Dorfgemeinschaftsbelange; das freut mich sehr für meine Menschen vor Ort.

Der ländliche Bereich ist andererseits beliebt, Tourismuszahlen belegen das, es gibt gepflegte Spazier- und Wanderwege durch schönes Waldgebiet bei uns, und man kann sich wohlfühlen in diesem ländlichen, aber landschaftlich schönen Umfeld. UND: Göstrup heute

Seit 1993 hat Göstrup eine vereinsmäßig organisierte Bürgerschaft, die sich mit viel Engagement einsetzt für das Miteinander im Dorf und für das Dorf selbst, die ab 2011 nicht unerhebliche LEADER-Mittel gewinnen konnte zur Umsetzung von Projekten zur Steigerung der Lebensqualität im ländlichen Raum, ich sage nur: Backhaus. Das zu erleben hätte mich als lebende Eiche sehr gefreut, immerhin bin ich aber jetzt in Teilen als Ausstellungsobjekt vor Ort und kriege alles Wichtige mit, und da kann ich nur sagen: Göstrup kann stolz sein auf seine Geschichte, aber auch auf seine Gegenwart. Es lohnt sich, Göstruper zu sein!

 

Quellen: 

http://de.wikipedia.org/wiki/Almena_(Extertal)

http://www.extertal.de/city_info/webaccessibility/index.cfm?waid=367&region_id=159&modul_id=5&record_id=5526 (zur Webseite "Geschichte des Extertals" der Gemeinde Extertal - hochinteressant, für Geschichtsfans sehr zu empfehlen!)

Schanz, Wolfgang/Wehrmann, Dietrich (Hrsg.): Göstrup. Eine ländliche Gemeinde im lippischen Norden. Gebundene Ausgabe  2000

Hagemeier, Walter : Geschichtlicher Rückblick - 800 bis ca. 1950. Göstrup, 8.10.2008

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